Am Sonntag, dem 27. Juli 2025, hat unser neuer Hoher Rat, Bruder Michael Knoll, sich in unserer Gemeinde vorgestellt. In seiner Ansprache hat er aus drei Geschichten zitiert, die hier in vollem Wortlaut zu lesen sind:
Als junges Mädchen hatte meine Großmutter, Chasty Olsen Harris, ein ähnliches Erlebnis. Sie kümmerte sich um einige Kinder, die in einem trockenen Flussbett in der Nähe ihres Hauses in Castle Dale, Utah, spielten. Plötzlich hörte sie eine Stimme, die sie beim Namen rief und ihr befahl, die Kinder aus dem Flussbett zu holen und ans Ufer zu bringen.
Es war ein klarer Tag, und es gab keine Anzeichen von Regen. Sie sah keinen Grund, auf die Stimme zu hören, und spielte weiter. Die Stimme sprach wieder zu ihr, dringlich. Diesmal hörte sie auf die Warnung. Schnell sammelte sie die Kinder ein und rannte zum Ufer.
Gerade als sie es erreichten, stürzte eine gewaltige Wasserwand, die durch einen Wolkenbruch in den Bergen viele Kilometer entfernt entstanden war, die Schlucht hinunter und rauschte über die Stelle, an der die Kinder gespielt hatten.
Ohne diese antreibende Offenbarung wären sie und die Kinder verloren gewesen.
Revelation – Justice of the Utah Supreme Court
September 29, 1981
Johannes P. Hopfe
Die Zeit liegt schon lange zurück, aber noch immer bin ich dankbar für die Führung und die Segnungen, die ich vom Herm erhalten hatte. Die letzten Kriegstage waren sehnsüchtig herbeigewünscht worden, und mit gebetsvollem Herzen bin ich aus allem Geschehen glücklich davongekommen, wenn auch nicht unverletzt.
In den Wirren der Nachkriegszeit und im Ringen der Siegermächte um die Beute geriet ich vierzehn Tage nach dem Waffenstillstand in amerikanische Gefangenschaft und nach einer weiteren Woche, welche wir in einem ehemaligen Arbeitslager verbrachten, wurden wir an den „Russen” ausgeliefert. Damit begann eine Odyssee, die mich und einige andere tausend Männer, ob Soldaten oder nicht, nach Russland nahe der sibirischen Grenze brachten.
In einem Waldlager, welches wir mit einigen deutschen Frauen und Mädchen teilen mussten, wurde ich bald mit anderen Kameraden zu einem kleinen Kommando von 60 Männern in ein anderes Lager verlegt. Es war eine Kleinstadt mit einem Erzbergwerk primitivster Art und kaum Sicherheit für das Leben der Menschen, die darin arbeiteten. Bald merkten wir, dass auch die wenige Bevölkerung, die es dort gab, zumeist aus Verbannten und Deportierten bestand.
So wurden wir zu Arbeiten in diesem Bergwerk unter Tage gebracht, und ohne Anleitung oder auch nur Hinweise auf Gefahrenstellen mussten wir die Steine, welche aus der Wand gesprengt wurden, mit einem Vorschlaghammer zerkleinern und zu tragbaren Brocken in Loren oder Schiebekarren verladen, die dann zu einer Rutsche gekarrt wurden. Diese Arbeit wurde auch von Frauen verrichtet.
So ist es nicht verwunderlich, dass ich mich immer mehr in meinen abendlichen Gebeten an den Herm wandte, um am Morgen wieder genug Kraft zu haben, diese Arbeiten ausführen zu können. Denn die Nahrungsversorgung hing von der Erfüllung des vorgegebenen Solls ab. Meine größte Sorge erfüllte mich, indem ich immer wieder darüber nachdachte, so gut wie nur irgend möglich, mein Leben zu erhalten, denn zu Hause warteten meine Frau und mein Sohn, sowie meine Eltern, die alle nicht wussten, wo ich mich befand. Meine Eltern hatten schon einen Sohn verloren.
In dieser Zeit war ich dankbar, in meiner Jugend das Evangelium kennen gelernt zu haben und dass ich in einem Elternhaus aufgewachsen war, in welchem das tägliche Gebet eine große Rolle spielte. Obwohl ich nun schon seit mehr als acht Jahren Soldat war, hatte ich nie vergessen, dem Herrn zu danken für seine Güte, in der er mich erhalten hatte. Oftmals sehnte ich mich danach, wieder in der Geborgenheit einer Gemeinde zu leben. So verging die Hoffnung auf eine glückliche Heimkehr in der Ungewissheit des Kommenden.
Unter Tage waren wir mit einer Karbidlampe ausgerüstet, die uns für unsere Arbeit einen matten Schein gab und uns zeigte, wie sehr wir auf das kleine Licht angewiesen waren. So verrichteten wir tagaus und tagein unsere Arbeit und warteten auf das Arbeitsende. Die Arbeiten wurden an verschiedenen Stellen ausgeführt, ich wurde zwei Frauen zugeteilt, und wir hatten Steine zu zerkleinern. Eines Feierabends machten wir uns bereit, zum Aufzug zu laufen, als meine Karbidlampe verlosch und ich völlig im Dunkeln stand. Die beiden Frauen hatten es eilig, zum Aufzug zu kommen und deuteten mir an, da wir uns ja nicht sprachlich verständigen konnten, jemanden mit Karbid zu schicken. So wurde das Licht mit den verschwindenden Frauen immer kleiner, bis ich völlig im Dunkeln saß. Es war eine unheimliche Stille im Berg, und ich wusste nicht, ob mir Hilfe zuteil werden würde. So versuchte ich, rutschend und tastend, etwas vorwärts zu kommen. Ab und zu hörte ich mal ein Geräusch, aber es war dann wohl nur ein Knistern der Holzstempel oder das Tropfen von Wasser. Während ich so um mich griff und versuchte, näher zum Ausgang oder in diese Richtung zu kommen, vernahm ich eine innere Stimme, welche mich mahnte, sitzen zu bleiben, denn das hatten mir die beiden Frauen auch geboten. So blieb ich auf dem steinigen Boden hocken und sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Ich betete um baldige Befreiung und auch um ein Wiedersehen mit meiner Frau und meinem Sohn, was ja in solch einer Situation am nächsten liegt. Ich verharrte lange Zeit in dieser Position und achtete auf jedes Geräusch, um mich zu orientieren. In solch einer Lage gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, und um so dringender wurden meine Bitten. Endlich, nach langer Zeit hörte ich etwas, ein Licht in der Ferne und endlich Rufe, die ich schnell beantwortete, und Schritte klangen an mein Ohr. Das elektrische Licht am Helm des „Steigers”, denn nur dieser hatte ein solches, leuchtete zu mir hin. Mit Entsetzen mussten wir beide feststellen, dass ich vor einem Loch saß, welches zirka zehn Meter tief auf die nächste Sohle gelangte und wohl mal zu einer Rutsche für das Gestein ausgebaut werden sollte. In diesem Augenblick wurde mir klar, wäre ich auch nur einen Schritt weitergegangen oder gerutscht, es hätte unweigerlich meinen Tod bedeutet.
Mit innerer Dankbarkeit gefüllt und mit neugefüllter Karbidlampe gingen mein Begleiter und ich zum Aufzug, um das Licht und die Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung aufs Neue zu sehen.
Dieses Erlebnis bewog mich, mich noch näher an den Herrn anzulehnen, und so suchte ich in der Lagerbibliothek nach guten Büchern in deutscher Sprache. Es gab einige alte Berliner Zeitungen, welche mich mit den Umständen des Nachkriegsdeutschlands bekannt machten und wohl mehr politischen Hintergrund hatten. Natürlich nahmen wir alles skeptisch auf. Ein Artikel interessierte mich sehr. Da stand in Großbuchstaben als Überschrift: „Mormonen, Religion und Aktien”. Das für mich wohl interessanteste war, als ich las, dass die Kirche einen neuen Präsidenten hatte. Heber J. Grand war gestorben und sein Nachfolger war Georg Albert Smith. Mit Heber J. Grand waren wir Heilige in den Kriegs- und Vorkriegsjahren sehr vertraut, und nun hatte die Kirche einen neuen Präsidenten. Ich konnte etwas über ihn lesen. Wenn es irgendetwas Negatives gab, habe ich es sicher bald vergessen, oder es gab nichts, was ich nicht schon hundertmal gehört hätte. Wichtig war für mich, so weit in der Ferne zu wissen, es gab einen Propheten, der die Geschicke der Kirche lenkte, und ich war mit ihr verbunden durch diese Nachricht!
Der Vater im Himmel segnete mich während meiner dreijährigen Gefangenschaft und ich hörte viel auf seine Eingebungen, die mir auch Vorteile verschafften während der Zeit, in welcher wir oft menschenunwürdige Umstände in kauf zu nehmen hatten.
Jedoch die Zeit kam, und ich durfte mit dem ersten Transport das Lager verlassen und die Heimkehr antreten. Auch dieses war vom Herrn weislich so vorgesehen, es würde wohl zu weit führen, davon noch zu berichten. Es war uns egal, dass der Transport anfänglich auf hochgeladenen Kohlewagen und später in Viehwaggons durchgeführt wurde, die Hauptsache war, wir kamen heim. So kehrte ich auf den Tag genau nach dreijähriger Gefangenschaft in die Stadt zurück, in welcher meine Frau und mein Sohn lebten.
Bei meiner Ankunft gab es wieder ein besonderes Erlebnis. Obwohl ich keine Möglichkeit hatte, meine Ankunft anzumelden, waren meine Frau und mein Sohn am Bahnhof, um mich abzuholen. Sie hatten noch nie einen Heimkehrertransport gesehen, wenngleich viele Leute zum Bahnhof gingen, um vielleicht etwas über den Verbleib von ihren Angehörigen zu erfahren. So verspürte meine Frau an diesem Tag den inneren Drang, zu gehen uns sich so ein trauriges Schauspiel anzusehen. Das Wunder war, ich kam durch die Sperre und sah meine Frau und meinen Sohn, welcher in der Vorhalle herumsprang und erst gerufen werden musste. Die Freude war überwältigend und die umstehenden Passanten konnten dieses Erlebnis nicht fassen. Zum ersten Mal zum Bahnhof, und die Frau bringt ihren Mann mit”, hörte man in unserer Straße, „und wie oft laufen wir?” Ich war zu Hause bei meiner Familie!
Wir schrieben das Jahr 1948 und meine nächsten Gedanken waren gewesen, dem Herrn zu danken und baldmöglichst wieder in den Reihen von Mitgliedern der Kirche zu sein. So suchte ich schon bald die Gemeinde in der Nachbarschaft auf, welche sehr klein war und ihre Versammlungen in einer Schule hielt. Ich war etwas erschrocken, denn vor dem Krieg in meiner Heimat, war ich gewohnt, in großen und gut organisierten Gemeinden zu wohnen, wo ich selbst auch bis zu meinem Soldat werden in der Kirche Aufgaben wahrnahm. Die Kriegsjahre hinderten mich, im Priestertum Fortschritte zu machen, aber schon bald, nachdem ich mich in der neuen Umgebung eingelebt hatte, wurde ich zum Priester ordiniert und nach einem weiteren Vierteljahr zum Gemeindepräsidenten berufen. Wieder drei Monate später erhielt ich das Melchisedekische Priestertum und wurde zum Ältesten von Jean Wunderlich, dem damaligen Missionspräsidenten, ordiniert. Obwohl ich nicht „am Ort” wohnte, bemühte ich mich so viel wie möglich die Gemeinde aufzubauen.
Es gab in der Nachkriegszeit viele Taufen. Einige Mitglieder blieben treu, viele andere dachten nur an die Unterstützung, die uns die Heiligen aus Amerika zuteilwerden ließen und gingen bald danach ihren alten Weg weiter. Die treuen Mitglieder brachten viele Opfer in dieser Zeit, und die Gemeinden im Distrikt wuchsen anfangs sehr gut. Viele packte bald das Auswanderfieber, da das zerstörte Deutschland ihnen keine Heimat mehr bieten konnte, oder viele ihr Hab und Gut verloren hatten. Das Nächstliegende war, dass die Mitglieder gleich versuchten, einen neuen Anfang in Utah zu machen. Die Einwanderungsbedingungen waren zu jener Zeit auch nicht schwer. So kam es, dass in den Jahren 1950 bis 1960 viele gute Geschwister ihre Gemeinden verließen und einen neuen Anfang in Amerika suchten. Die Gemeinden wurden dadurch sehr geschwächt. Fast jeder wurde in dieser Zeit mit dem Auswanderungsproblem konfrontiert. Auch meine Frau und ich mussten uns dieser Entscheidung unterwerfen. Wir wohnten noch bei meinen Schwiegereltern im Haus, und das Problem der Wohnungssuche war fast nicht zu beheben. Viele Menschen verließen auch die besetzten Ostgebiete, und für diese wurde zuerst gesorgt. Mit ihnen kamen auch wieder neue Mitglieder zu den verwaisten Gemeinden, und der Aufstieg begann wieder. Die Missionen in Deutschland wurden schon bald nach dem Krieg neu geordnet und viele Missionare trafen ein. Die meisten Heiligen versammelten sich in Schulen oder öffentlichen Institutionen. Erst nach und nach fing man an, die zerstörten und ausgebombten Häuser aufzubauen und hier und da auch Versammlungsräume zu schaffen.
So war auch in unserer Gemeinde das Bedürfnis groß, heraus aus der Schule und wieder das ehemalige „Lokal” aufzubauen. Alle Arbeiten wurden freiwillig und selbständig ausgeführt, oft mit den primitivsten Mitteln an Handwerkszeug. Ich erinnere mich an einen Bruder, welcher mit dem Taschenmesser die verzogenen Fensterrahmen richtete. Alle Teile, die benötigt wurden, kamen aus alten abzureißenden Ruinen. Es war eine Zeit der Begeisterung und Hilfsbereitschaft. Alte Schwestern, die selbst nur das Notwendigste zum Leben hatten, versorgten die Brüder „am Bau”. Die Gemeinde erhielt zu dieser Zeit die ersten deutschen Missionare, welche auch gleich zur Arbeit eingesetzt wurden. Nach elf Monaten konnten wir unsere Räume beziehen. Soweit mir von der Missionsleitung berichtet wurde, war es das erste wiederhergestellte Versammlungshaus in der Mission.
Von Herzen bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie die Wahrheiten des Evangeliums kurz nach dem ersten Weltkrieg erkannt haben und uns Kinder, wir waren vier, darin erzogen haben. Wir haben die vorgeschriebenen Wege nicht verlassen. Nachdem ich meinen achten Geburtstag hatte, war ich glücklich, gleich meinen Eltern und älteren Geschwistern, den Bund der Taufe zu schließen.
JOHANNES P. HOPFE, 1918 im Erzgebirge geboren, wuchs als Sohn eines Reichsbahnoberinspektors in Sachsen auf. Im Alter von acht Jahren wurde er durch die Taufe Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Nach dem Schulabschluss erlernte er das Handwerk des Bäckers und Konditors. Später war er jedoch in der Industrie als Eisenbahntransportleiter tätig. Aus seiner Ehe gingen zwei Kinder hervor.
In der Kirche hatte er viele Führungspositionen inne und begeisterte durch sein Talent in der Schauspielerei so manche Unterhaltung. Seit 1976 ist er Patriarch des Pfahles Düsseldorf.
Mit Erlaubnis des Autors aus dem Buch „Dem Licht entgegen“ von Reinhard Staubach.
Helga Henkel
Wenn ich hier mein Zeugnis aufschreibe, dann muss ich über einige Erlebnisse berichten, die maßgeblich zu diesem Zeugnis beigetragen haben.
Mein Name ist Helga Henkel. Ich bin eine geborene Gäbler. Im östlichen Teil der Republik ist der Name recht bekannt. Meine Eltern sind Bruno und Martha Gäbler.
Beginnen möchte ich bei meinem Vater. Er hat folgendes erzählt: Während des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) war er als ganz junger Soldat in Russland; die deutschen Truppen waren auf dem Rückmarsch und die Truppe, in der mein Vater war, rannte um ihr Leben; so auch mein Vater. Da hörte er eine Stimme, die sagte „Bleib‘ stehen.“. Er sah sich um, konnte aber niemand sehen. So rannte er weiter.
Ein zweites Mal hörte er die Stimme „Bleib‘ stehen“, und noch ein drittes Mal „Bleib‘ stehen, du sollst noch nicht sterben“. Verwundert blieb er stehen, sah aber immer noch niemand. Er kam in russische Gefangenschaft und war der Einzige, der von der Truppe überlebte. Zu der Zeit war er kein Mitglied der Kirche. Dieses Geschehnis gewinnt an Bedeutung, wenn man, wie ich, aus jetziger Sicht zurückschauen kann. Er heiratete nach dem Krieg, schloss sich der Kirche an hat sieben eigene Kinder, 29 Enkel, 83 Urenkel, und 10 Ururenkel. Er war viele Jahre Gemeindepräsident oder in anderen Berufungen der Kirche tätig. Seine Nachkommen sind in der Regel verheiratet und weitgehend der Kirche treu geblieben. Eine Anzahl eigener Nachkommen oder deren Partner haben eine Mission erfüllt. Als tätiges Mitglied erfuhr er bald, wie hilfreich es sein kann, gewisse Fähigkeiten oder Begabungen zu haben.
Zwar übte er als Steinmetz einen künstlerischen Beruf aus, das half ihm aber in der kirchlichen Arbeit nicht sonderlich viel. Er litt darunter, dass er kein guter Redner war, und singen konnte er überhaupt nicht. So kniete er sich eines Tages hin und bat den Vater im Himmel inbrünstig, ER möchte ihm Kinder schicken, die diese Gaben haben, die er bei sich so schmerzlich vermisste. In der Rückschau kann ich bestätigen, dass der HERR sein Gebet erhörte. Bei seinen Kindern und noch mehr bei den Enkelkindern sind die vielfältigsten Begabungen zu finden.
Den Zweiten Weltkrieg habe ich selbst als Kind erlebt und über zwei Begebenheiten aus dieser Zeit will ich berichten.
Wir saßen im Keller unseres Einfamilienhauses und hatten schreckliche Angst, als nach vielen Schießereien und Granatenhagel Sowjetsoldaten in unser Haus kamen. Wir, das waren mein Vater, der sehr krank war, meine Mutter, meine beiden Schwestern mit 17 und 24 Jahren, meine Tante, einer meiner Brüder und ich. […] Einmal war es besonders schlimm. Der Soldat war betrunken. Er schrie und fuchtelte mit seinem Gewehr herum. Plötzlich sackte er zusammen und schlief auf der Kellertreppe ein. Als er ein paar Stunden später aufwachte, verlangte er ein Glas Wasser, das meine Mutter aus Vorsorge gefüllt hatte, und ging fort. Wir waren sehr verwundert und mein Vater erzählte uns, dass er mit dem Vater im Himmel gerungen und ihn angefleht hatte, uns zu helfen. Und wieder hörte er eine Stimme, die sagte „Was du wünschst, das wird geschehen“. Er hatte gewünscht, dass er einschlafen möge. Später kam dieser Soldat wieder, und mein Vater wünschte, dass er dienstlich abberufen würde, und auch das geschah.
Die russischen Soldaten trieben uns dann fort aus unserem Haus. Etwa 60 Kilometer in östlicher Richtung fanden wir für einige Zeit eine Bleibe. […] Meine Schwester Ilse nähte oft für die Soldaten. Das gefiel ihnen und als die Kommandantur versetzt wurde, nahmen sie einfach meine Tante und meine Schwester in ihrem Panjewagen mit. Sie durften noch einen Rucksack mit Kleidung mitnehmen. Meine Mutter war untröstlich. Nach ein oder zwei Tagen lag der Rucksack plötzlich in unserem Flur. Niemand wusste, wie er dort hingekommen war. Es gab einige Zeugen, die ihn bei der Abfahrt auf dem Wagen gesehen hatten. Mein Vater tröstete meine Mutter und sagte: „Dies ist ein Zeichen, sie wird wiederkommen. So war es dann auch. Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Tage sie weg war, aber eines Tages hielt ein Panjegespann vor dem Haus. Ein russischer Soldat hatte ihr Weinen nicht länger ertragen können und sie ohne Wissen seines Vorgesetzten zurückgebracht. Was uns aber noch mehr in Erstaunen versetzte war, dass man ihr nichts angetan hatte. Vor ihrem Zimmer hatten immer Wachen gestanden, um sie zu beschützen.
Diese Geschehnisse beeindruckten mich sehr nachhaltig. Im Alter von zwanzig Jahren wurde ich auf Mission in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik berufen. So war es für mich gar keine Frage, die Berufung anzunehmen.
Wir gingen von Tür zu Tür missionieren, obwohl es verboten war. Im Wesentlichen bestand unsere Arbeit jedoch darin, kleine Gemeinden zu unterstützen oder sie aufrecht zu erhalten. Wir haben oft gefroren und manchmal auch gehungert, denn irgendwann war das ersparte Geld aufgebraucht. Meine Eltern waren arm und konnten nicht viel Geld zur Verfügung stellen. Einmal hatte ich kein Geld, um in mein nächstes Arbeitsfeld zu fahren. Es war eine harte Zeit, aber es hat mir offensichtlich nicht geschadet; im Gegenteil, heute bin ich in den sechziger Jahren und mein Zeugnis ist gewachsen und stark.
Im November 1957 heirateten der zurückgekehrte Missionar Manfred Henkel und ich. Eigentlich hätten wir zu der Zeit noch nicht heiraten dürfen. Einmal war im September mein Vater gestorben, und außerdem waren wir beide bettelarm. Unsere Kleider waren nach der Mission abgetragen und Geld für neue hatten wir nicht, auch nicht, um eine Wohnung einzurichten. Aber das hat uns nicht weiter gestört, wir waren mit dem zufrieden, was wir hatten. Problematisch wurde es noch dadurch, dass mein Mann auf Grund der Mission in seinem Beruf keine oder nur sehr niedere Arbeit fand. Als sich dann die Möglichkeit bot, als Maschinensetzer bei der SED-Zeitung „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus angelernt zu werden, waren wir glücklich. Doch es währte nicht lange. Jugendliche aus der Gemeinde Cottbus hatten Flugblätter gegen das SED-Regime verteilt, wurden gefasst und unter Druck gesetzt, die Mitglieder zu bespitzeln. Die Information kommt von jemand, der damals dabei war. So kam es, dass mein Mann denunziert wurde. Ein zurückgekehrter Missionar war für ein Parteiblatt untragbar. Nach mehreren Gesprächen mit der Betriebsleitung wurde er nach Forst (Lausitz) versetzt. Hier ging es eine Weile gut, doch dann begannen wieder Bespitzelungen. Inzwischen waren uns zwei Töchter geboren.
Mit einem dritten Kind war ich schwanger. Die Situation spitzte sich zu, und so beschlossen wir, unsere Heimat und unsere Familie zu verlassen, und noch einmal in der Bundesrepublik von vorn anzufangen.
Wir wussten, sollte uns die Flucht nicht glücken, werden wir wegen Republikflucht belangt. Das war im Mai 1961. Mit dem ersten Tag des neuen Anfangs hier in der Bundesrepublik haben wir uns entschieden, trotz aller Bedürftigkeit ehrlich den Zehnten zu zahlen und fleißig zu arbeiten. Wir kamen auch gut voran. Doch vor etwa zwölf Jahren musste mein Mann eine schwierige Kopfoperation über sich ergehen lassen, er war danach erwerbsunfähig und auf Rente angewiesen. Das brachte unser finanzielles Konzept arg durcheinander. Umdenken war erforderlich. Durch mein Engagement im Unterrichten von Kindern und Jugendlichen konnte ich die fehlenden finanziellen Mittel heranschaffen.
Wenn man den Bericht bis hierher gelesen hat, könnte man meinen, unsere Mission und unsere Treue zum Evangelium hätten uns nur Nachteile gebracht. Aber das Gegenteil ist richtig. Der HERR weiß, dass wir in Schwierigkeiten demütig sind und wachsen können; ER hat uns die Kraft und die Fähigkeit gegeben, sie zu bewältigen. Wir haben fünf gesunde und intelligente Kinder, zwölf Enkel und ein Urenkel. Wir wohnen in einem schuldenfreien Haus. Mit fünfzig Jahren, habe ich mir noch meinen Wunsch erfüllt, auf dem zweiten Bildungsweg anerkannte Lehrerin für Gitarre und Blockflöte zu werden. In meiner eigenen kleinen Musikschule hatte ich schon bis zu 140 Schüler wöchentlich.
Heute, nach fast sieben Jahrzehnten, kann ich sagen, dass der HERR sich nichts schenken lässt, und uns auf vielfältige Weise segnet. Wir müssen nur unsere Augen und unser Herz öffnen, um die Segnungen zu erkennen.
Helga Henkel, Bretzfeld, den 15. Januar 2002
Aus dem Buch „In Liebe und Zeugnis vereint“ Zeugnisse und Bekehrungsgeschichten von Schwestern des Pfahles Stuttgart – Jahr 2002